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Die
Nixe vom Mansfelder See aus "Deutsche Volksmärchen", Herausgeberin Waltraud
Woeller, Insel-Verlag Anton Kippenberg, Leipzig, 1985, Bearbeitung
F. Jentzsch
1)
Text Nicht weit vom Mansfelder Süßen See liegt ein Dorf,
doch wie es heißt, weiß ich nicht. Da war alle
Sonntage Musik und Tanz, und alle Burschen und Mädchen
der Umgegend fanden sich dazu ein. Die Mädchen waren
alle schön; aber eine war so schön, daß man
sie sein Leben lang nicht mehr vergessen konnte, wenn man
sie einmal gesehen hatte. Doch wer sie war und woher sie kam,
wußte niemand. Einem jungin Schäfer gefiel sie
so wohl, daß er mit keiner andern mehr, tanzen wollte,
und als sie einst wegging, schlich er ihr nach und bat sie,
ihm zu erlauben, daß er sie nach Hause begleite. »Ja«,
sagte sie, »das kannst du tun, du mußt mir aber
versprechen, nicht auf dem halben Wege umzukehren, sondern
ganz mitzukommen.« Das versprach er gern, und sie faßte
ihn bei der Hand und führte ihn nach einer Gegend hin,
wo gar kein Dorf lag, so daß er bald ängstlich
fragte, ob sie auch den Weg kenne, sie müß ten
sich wohl verirrt haben, »Nein, nein«, sagte sie,
»komm nur mit und fürchte dich nicht; ich werde
dir schon den rechten Weg zeigen.« Sie gingen immer
weiter und kamen endlich an den See, wo das Mädchen von
den Weiden, die am Ufer stehen, eine Gerte abbrach und damit
dreimal auf das Wasser schlug. Und siehe da, das Wasser tat
sich auf, und eine hübsche, breite Treppe wurde sichtbar,
die zum Grunde des Sees führte. Der Schäfer blieb
wohl einen Augenblick verwunden stehen, doch da ihn das Mädchen
immer noch bei der Hand hielt und freundlich zu ihm sprach:
»Nun komm nur, komm!«, so stieg er, von ihr ge
führt, die Stufen hinunter; und sie kamen in einem aller
liebsten Dorfe an, wo die Mutter des Mädchens in einem
kleinen, niedlichen Häuschen wohnte. »Ei«,
rief die Alte, als sie eintraten, ihrer Tochter entgegen,
»du bringst dir wohl gar einen Schatz mit? Nun, wir
wollen sehen, wie es ihm bei uns gefällt. Die von dort
oben können immer nicht‘ viel arbeiten und wollen
gleich wieder hinauf. Doch es kommt auf einen Versuch an.«
Den andern Tag ging die Alte in die Kirche (denn natürlich
war auch eine Kirche im Dorfe); und ehe sie ging, schüttete
sie einen Scheffel Rübsen in einen großen Hau fen
Asche und sagte zu dem Schäfer: »Da suche die Körner
heraus. Wenn ich wiederkomme, mußt du fertig sein.«
Der Schäfer blieb traurig vor dem Aschenhaufen stehen
und wagte gar nicht, ihn anzurühren. Doch das schöne
Mäd chen sprang herbei und rief: »Wart, ich will
dir helfen«, und sie öffnete einen Taubenschlag,
aus dem ein ganzer Schwarm Tauben flog, die über die
Körner herfielen und sie in kurzer Zeit alle wieder in
den Scheffel gelesen hatten, Die Alte‘ kam zurück
und erstaunte und freute sich über die woh Arbeit. Als
sie nun wieder ausging, gab sie dem Schäfer ein Sieb
und hieß ihn einen Teich damit ausschöpfen; doch
mit Hilfe seiner Geliebten gelang ihm auch dies und auch die
dritte Arbeit, welche ihm die Alte auferlegte, und welche
darin bestand, daß er an einem Vormittage einen großen
Wald Lällen, das Holz kleinhacken und in Wellen binden
mußte. Da er diese Proben alle drei so glücklich
bestanden hatte, erlaubte die Alte ihrer Toch ter, ihn zu
heiraten; und sie hielten eine fröhliche Hoch zeit, zu
der viele Nixe und Nixen eingeladen wurden.
Zwei Jahre lebten sie glücklich und zufrieden miteinander,
und sie hatten auch einen wunderniedlichen kleinen Sohn bekommen.
Da wurde der Schäfer plötzlich von Sehnsucht nach
seiner Heimat ergriffen, und er bat seine Frau, sie möchte
ihm doch erlauben, einmal seine Eltern und Geschwister zu
besuchen. »Das darfst du wohl«, sagte sie. »Wenn
du mir versprichst, wieder mit herab zu kom men, will ich
selbst gehen und dich in dein Dorf führen.« Sie
nahm.ihr Kind auf den Arm und giüg mit dem Schäfer
die Stufen hinauf, und sie besuchten seine Eltern und alle
Bekannte und blieben drei Tage im Dorfe. Dann sprach die Frau:
»Nun müssen wir umkehren, sonst kannst du dich
von diesem Leben nicht mehr trennen.« Er nahm wehmütig
Abschied und folgte ihr bis zum See; doch als sich das Wasser
auftat, graute es ihm, und er konnte sich nicht entschließen,
wieder hinunterzugehen und bat seine Frau, oben bei ihm zu
bleiben. »Wir helfen meinen Eltern den Acker bauen«,
sagte er, »und wenn wir auch nicht so gut leben wie dort unten,
so sehen wir doch den blauen Himmel und die liebe Sonne über
uns.« Doch sie schüt telte traurig mit dem Kopfe
und erinnerte ihn an die Liebe und Treue, die er ihr gelobt
hatte. »Und wenn du nicht mitkommst«, sprach sie,
»so müssen wir das Kind teilen; denn es gehört
uns beiden. Sieh, wie es lacht.« Damit hielt sie ihm
das Kind hin, und es streckte die kleinen Arme freundlich
nach ihm aus. Da weinte der Schäfer von Her zen und bat
die Nixe, den Knaben allein zu behalten. Er versprach, sie
täglich am See zu besuchen; doch mit hinab- kommen könne
er nicht, lieber wölle er selbst sterben, »Wenn
du oben bleibst«, sagte die Nixe, »so müssen
wir uns auf ewig trennen, und ich darf von dem Kinde nicht
mehr behalten als mir gehört.« Da küßte
sie ihn noch zum Abschied, und sie teilte das Kind und hieß
ihn wählen, wel ches Stück er wolle. Er nahm die
obere Hälfte (geändert F. Jentzsch), und sie warf die untre (geändert F. Jentzsch) in den See, wo alsbald
ein munterer Fisch daraus wurde, der fröhlich fortruderte.
Und als der Schäfer ihm noch nachsah, war die Nixe schon
über die Stufen hin- abgestiegen, und das Wasser schlug
über ihr zusammen. Da grub er die andre Hälfte des
Kindes am Ufer ein, und an der Stelle wuchs eine Lilie, die
neigte sich über das Wasser; und man sah oft, wie der
Fisch in der Dämmerung bei der Lilie auf und nieder schwamm.
2)
Deutung
Zunächst
einmal ist jeder schockiert, daß ein Kind geteilt wird,
doch fangen wir von vorne an: Niemand unter den jungen Tänzern
kennt die schöne Fremde, und: " Einem jungen Schäfer gefiel sie so wohl, daß er
mit keiner anderen mehr tanzen wollte". Was ist
ein Schäfer? Jemand, der in der Natur lebt, die Lebensbedingungen
der Schafe kennt und verantwortlich für die Herde ist.
Der
Schäfer hat sich mit der Schönen in harmonischer
Bewegung verbunden, im Tanz. Sie hat es gestattet.
Begleiten
darf er sie, wenn er nicht auf halbem Wege umkehrt. Sie sagt
ihm jedoch nicht, daß sie eine Nixe ist und wohin der
Weg geht. Niemand wußte es. Er geht die Verbindung ein. Hier
wird zum erstenmal von dem Übergang zwischen Land und
Wasser gesprochen, aber nur von ihr. Er weiß nicht,
worum es geht.
Sie
nimmt ihn an der Hand und führt ihn. Sie sagt: "Ich
will dir den rechten Weg zeigen". Er bleibt am Wasser
verwundert stehen. Sie sagt: "Komm nur, komm!" Das zweitemal kommt dann später, wo er seine Eltern besuchen
will und sie ihn wieder an der Hand nimmt und die Stufen hinaufführt.
Sie hält auch das Kind auf dem Arm. Das drittemal will
sie ihn führen, als es zurück in den See gehen soll.
Er folgt ihr nicht. Sie aber bestimmt, daß das Kind
geteilt wird, dann teilt sie es und heißt ihn wählen.
Sie
stehen zum erstenmal an der Grenze zwischen Land und Wasser,
als er sie nach Hause begleitet. Das zweitemal kommt dann
später, wenn er wieder zurück in die Tiefe soll.
Das drittemal steht die Grenze im Mittelpunkt, wo die Lilie
sich über das Wasser neigt und der Fisch in der Dämmerung
bei ihr auf- und niederschwimmt.
Die
Dämmerung ist auch eine Grenze, nämlich zwischen
Tag und Nacht, sinnbildlich zwischen Tages- und Nachtbewußtsein.
Und wir, die wir eigentlich nur unser Tagbewußtsein
gewohnt sind und kennen, haben über diese Nahtstelle
die Chance, Einblicke in das Nachtreich zu erhaschen, im Märchenbild:
einen Fisch zu sehen.
Die
Mutter der Nixe sagt: "Die von dort oben können
immer nicht viel arbeiten und wollen gleich wieder hinauf." Das heißt, daß in diesem unteren Wasserreich mehr
gearbeitet wird. Welcher Bereich in mir entspricht dieser
arbeitenden Späre? Der Stoffwechsel? Das rhythmische
System mit seinem unermüdlichen Herzschlag und der Atmung?
Dann
kommen drei Prüfungen:
1)
Rübsen aus der Asche lesen. Hier lernt der Schäfer,
Lebendiges und Totes zu unterscheiden. Die konzentrierten
Lebenskräfte der Rübensamen liegen in der toten,
abgebrannten Asche. Asche ist das, was die Läuterung
im Feuer übersteht.
2)
mit dem Sieb einen Teich ausschöpfen. Das ist
doch eigentlich etwas Unmögliches. Das Sieb trennt und
sondert. Das Wasser ist aber etwas Einheitliches. In der "anderen
Welt" ist aber manches anders.
3)
an einem Vormittag einen ganzen Wald fällen und kleinmachen und in Wellen binden. Er soll vielleicht Dunkles,
Undurchdringliches lichten, überschaubar und nutzbar
machen.
Der
Schäfer steht traurig vor den Aufgaben. Er leistet anscheinend
nichts zu ihrer Bewältigung . Alles macht die Nixe für
ihn. Ist es sein Verdienst, daß sie sich zu einer Einheit
verbunden haben, bei der es gleich ist, ob sie oder er die
Aufgabe vollbringt?
Wann
wird eigentlich der Schäfer tätig? Er ist anfangs
tätig, als er die Schafe hütet. Dann will er mit
keiner anderen als mit der Schönen tanzen. Da ist er
wohl auch tätig. Und als er nach zwei Jahren Ehe sagt: "Wir helfen meinen Eltern den Acker bauen..." Da will er wieder auf seine Art tätig werden. Endlich
ist er auf seine Art tätig, als er seine Hälfte
des Kindes am Ufer eingräbt, und eine Lilie daraus wächst.
Er
will nicht unten im See in der Tiefe (im Unbewußten)
leben, wo kein blauer Himmel und keine Sonne zu sehen sind.
Nach zwei Jahren Ehe steht er wieder mit beiden Beinen auf
der Erde, er hat festen Boden unter den Füßen,
da will er nicht wieder "ins Schwimmen geraten".
Helles Licht und und geistige Führung sind sein Bereich.
Über ihr schlägt das Wasser zusammen - er bleibt
oben am Ufer. Dem Schäfer gibt sein Tagesbewußtsein
Halt, das will er nicht verlassen. Die Nixe scheint mir ein
Bild des Nachtbewußtseins zu sein, aus dem wir unbewußt
unsere Kräfte schöpfen. Er gibt deshalb auch zu: "und wenn wir auch nicht so gut leben wie dort unten
...", weil der Nachtbereich Kräfte spendet,
die das Tagbewußtsein verbraucht hat.
Am
Ende des Märchens verstehen sie es noch nicht, beide
Bereiche miteinander zu vereinen. Er kann nicht hinabsteigen,
sie nicht hinauf.
Das
Kind ist etwas Gemeinsames, was sich durch ihre Verbindung
entwickelt hat. Sie heißt ihn seine Hälfte des
Kindes wählen. Warum darf er nun auf einmal wählen,
wo sie doch sonst immer bestimmte? Weil er damit Schicksal
schafft. Und wie schwer es auch sein wird: aus Schwächen
werden einmal die bleibenden Stärken erarbeitet. Das
ist der Sinn der menschlichen Entwicklung.
Er
wählt die obere Hälfte des "KIndes". aus der eine Lilie wird, deren Blüte - wie der Schäfer auch - mit Himmel und Sonne verbunden und dem Bewußtsein zugänglich bleibt.
Am
Ende kann das Kind noch nicht weiter wachsen. Das, was sie
gemeinsam begonnen haben, ist getrennt. Wir können die
Trennung erleben am Ufer zwischen den beiden Bereichen, da,
wo sich die beiden Welten berühren. Daraus entsteht Sehnsucht
nach der Verbindung. Sie warten darauf, daß wir uns
in beiden Welten bewegen lernen.
Unsere
Situation heute
Wir
stehen mindestens einmal am Tag an diesem Ufer "des Mansfelder
Sees". In die Welt des Bildens — ins Unbewußte
können wir nicht hinab mit unserem Bewußtsein.
Dort wird im Schlaf, so gut es geht, wieder in Ordnung gebracht,
was wir tagsüber mit unseren Sinneswahrnehmungen gestört
haben. Wenn wir tags durch die Stadt laufen, alles hören
und ansehen, da sind wir abends erschöpft, zerfasert,
wund. In alten Zeiten der Menschheitsentwicklung war uns der
Bereich der schaffenden Lebenskräfte einmal hellsichtig
zugänglich. Dann entwickelte sich der Intellekt: Götterdämmerung
setzte ein.
Die Alte in der Tiefe sagt ja: »Die von dort oben
können immer nicht viel arbeiten und wollen gleich wieder
hinauf" - vergl. den Hahn
im Märchen "Die Bremer Stadtmusikanten", Brüder Grimm, KHM 27, der lieber in die Spitze des Baumes
fliegt, "wo es am sichersten für ihn war",
das heißt: der lieber von oben herabschaut und beurteilt,
anstatt unten auf der Erde zu handeln. Handeln hat
nämlich Folgen, und die sind für uns bedrückend,
weil wir nicht überblicken, was sie uns für Arbeit
bringen. "Am Ufer" - beim Erwachen aus dem Schlaf
- erwischen wir heute bestenfalls einen Traum-Fisch.
Das
Märchen endet unbefriedigend für uns, ohne "happy
end". Es schließt mit der Lage, in der sich die
Menschheit heute befindet. Wie es mit uns weitergehen kann,
finden Sie unter "Märchendeutung / "Märchenwege".
(Frank
Jentzsch 13.3.2008)
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