Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Läuschen und Flöhchen (Originaltext vergl. --> Brüder Grimm, KHM Ausgabe letzter Hand von 1857, Nr. 30)


A) Text (in der Bearbeitung von Frank Jentzsch):

Läuschen und Flöhchen brauen Bier in einer Eierschale.
Da fällt Läuschen hinein und verbrennt sich ein Bein.
Fängt`s Flöhchen fürchterlich an zu schrei`n,
und schreit und schreit und schreit und schreit.
Spricht`s Türchen: Flöhchen, warum schreist du so?

Sollt`ich nicht schrei`n?
Läuschen fiel ins Bier hinein
und verbrannte sich ein Bein!

Da muss ich knarren!, spricht`s Türchen
und knarrt und knarrt und knarrt und knarrt.
Fragt`s Besenchen, das hinter dem Türchen steht:
Türchen, warum knarrst du so ?

Sollt` ich nicht knarren?
Flöhchen weint, weil Läuschen sich verbrannt hat!

O, da muß ich kehren, spricht`s Besenchen,
und kehrt und kehrt und kehrt und kehrt.

Kommt`s Wägelchen gefahren und ruft:
Besenchen, was kehrst du so ?

Sollt` ich nicht kehren?
Türchen knarrt,
weil Flöhchen weint,
weil Läuschen sich verbrannt hat!

O, da muss ich rennen!, ruft`s Wägelchen
und rennt und rennt und rennt und rennt
am Mistchen vorbei.

Ruft`s Mistchen: Wägelchen, was rennst du so?
Sollt` ich nicht rennen?
Besenchen kehrt,
weil Türchen knarrt,
weil Flöhchen weint,
weil Läuschen sich verbrannt hat!

So muß ich brennen!, ruft`s Mistchen
und brennt und brennt und brennt in hellen Flammen.
Fragt`s Bäumchen, das neben dem Mistchen steht:
Mistchen, warum brennst du so?

Sollt` ich nicht brennen?
Wägelchen rennt,
weil`s Besenchen kehrt,
weil`s Türchen knarrt,
weil Flöhchen weint,
weil Läuschen sich verbrannt hat.

Spricht`s Bäumchen: So will ich mich schütteln!,
und schüttelt und schüttelt und schüttelt sich,
und alle Äpfel und alle Blätter sind herabgefallen.

Kommt das Mägdelein mit dem Krügelein,
will zum Brünnelein, Wasser schöpfen:
Warum schüttelst du dich, Bäumchen?

Sollt` ich nicht schütteln?
Mistchen brennt,
weil`s Wägelchen rennt,
weil`s Besenchen kehrt,
weil Türchen knarrt,
weil Flöhchen weint,
weil Läuschen sich verbrannt hat!

Ach, da muss ich mein Krügelchen zerbrechen!,
spricht`s Mägdelein und zerbricht`s Krügelein.

Fragt`s Brünnelein, aus dem`s Wasser quoll:
Warum schöpfst du den Krug nicht voll?

Sollt` ich denn schöpfen?
Bäumchen schüttelt sich,
weil`s Mistchen brennt,
weil`s Wägelchen rennt,
weil Besenchen kehrt,
weil Türchen knarrt,
weil Flöhchen weint,
weil Läuschen sich verbrannt hat.

So muss ich fließen!, spricht`s Brünnelein,
und fließt und fließt und fließt und fließt über,
und alle, alle, alle sind ertrunken.

 

B) Zur Deutung


1) Läuschen u. Flöhchen sind nichtsnutzige, lichtscheue Plagegeister, die dem Menschen das Kostbarste, was er hat, das Blut, aussaugen.
2) Sie brauen Bier: sie mißbrauchen lebenspendendes Brotgetreide, um abtötenden Alkohol herzustellen.
3) ... in einer Eierschale: Das Ei ist Symbol für konzentrierte Lebenskräfte, Bild für zukünftige Entwicklung. Die leere Schale ist das Gegenteil davon.
4) Läuschen verbrennt sich - vergleiche Sneewittchens Stiefmutter oder die Hexe in "Hänsel und Gretel", die in glühenden Pantoffeln tanzen müssen oder im Backofen ganz verbrennen. Begierde und Sucht kommen nach dem Tod / am Ende des Märchens als verzehrendes Feuer auf den Gierigen zu. Das Läuterungs-Fegefeuer verzehrt alles Unreine. Übrig bleibt die reine Asche.
5) Türchen knarrt nutzlos, ohne sich jemandem zu öffnen, ohne etwas durch Schließen zu bewahren.
6) Besenchen kehrt ohne zu säubern.
7) Wägelchen rennt ziellos, ohne etwas zu befördern.
8) Mistchen brennt, anstatt den Mist in Komposterde umzuwandeln.
9) Bäumchen schüttelt sich, anstatt seine Früchte ruhig reifen zu lassen und den rechten Zeitpunkt für die Ernte abzuwarten.
10) Mägdlein zerbrichts Krügelein, sie verliert das Fassungsvermögen für die Wohltaten des "Wassers".
11) Der Brunnen: Im Anfang war das Wort = die Quelle allen Schaffens und alles Geschaffenen.

Jeder Mitspieler im Märchen zählt die Leiden der Vorgänger auf und fügt ein weiteres, sein eigenes, hinzu. Das schöpferische Wort wird mißbraucht zum Vervielfältigen von Jammer und Dummheit. Das einmal in die Welt gesetzte Gerücht vervielfältigt sich, wird zur Flut. Diese Flut kommt am Ende, scheinbar von außen, auf die Verursacher zurück: Der Brunnen läuft über.

Dieser Umkehrung liegt nur eine andere Art der Wahrnehmung zu Grunde, die wir vom Traum her kennen. Vgl. auch Brüder Grimm: "Der Bärenhäuter", wo der Teufel zum Soldaten sagt: "Schau hinter dich!", denn man kann nicht hinter sich schauen, weil die Augen vorne sind, oder im Grimm`schen Märchen vom "Meister Pfriem", der im Traum / im Himmel seinem Charakter im Bilde begegnet, ihn aber nicht als zu sich gehörig erkennt).

 

Das Ganze kann in uns selber stattfinden:

1) Falsche Gedanken und böse Gefühle nehmen uns Kraft weg.
2) Manchmal ziehen wir den Rausch des Genießens vor, anstatt unsere Seele durch sonnenhafte Ernährung, durch geduldige Arbeit weiterzubringen.
3) Auch wir vergeuden Lebenskräfte und erschweren dadurch unsere Entwicklung.
4) Wir wehren uns mit Klagen gegen läuterndes Schicksalsfeuer.
5) Nicht immer grenzen wir unsere Individualität gegen Böses ab und öffnen uns stattdessen dem Guten.
6) Machen wir in uns selber sauber? Wo kehrern wir, und mit welchem Nutzen?
7) Schaffen wir uns Zeiten der Besinnung und des Überblicks, gliedern wir unsere Arbeit rhythmisch und lebenspendend, oder sind wir "immer auf Achse", rotieren wir ruhelos?
8) Haben wir die Bescheidenheit und Ergebenheit, die Abfallprodukte unseres Handelns, unsere "Fehler und Irrwege", den Engeln zur sinnvollen Weiterverarbeitung für unser Schicksal – zur Kompostierung, zu überlassen? Oder bohrt unser brennender Ehrgeiz weiterhin daran herum?
9) Wollen wir ungeduldig den Erfolg herbeiziehen – die unreifen Äpfel schütteln – oder die Früchte unseres Handelns in Ruhe reifen lassen?
10) Der Teufel ernährt sich von der Aufmerksamkeit, die wir ihm schenken. Wenn ich mich mit Negativem befasse, vermehre ich es noch.
11) Nach dem Tode (Nahtod-Erlebnisse), oder in manchen Träumen kommen uns unsere Charakter-Eigenschaften entgegen, sie kommen wie von außen auf uns zu. Hier kommt die Flut von Klagen und Dummheit, die die Seele in die Welt hat ausströmen lassen, die mißbrauchten Worte, auf die Seele zurück
.

 

Der Bezug zur Gegenwart

A) Jeder von uns hat – gemäß seinen Fähigkeiten – seine Aufgabe im sozialen Zusammenhang zu erfüllen. So wie jede Zelle im Körper ihre Aufgabe hat, so hat jeder Mensch seine Aufgabe am „Körper“ der Menschheit. Eine Leberzelle hat eine andere Aufgabe als eine Zelle in der Lunge usw. Wenn eine Zelle das vergißt und nur für sich sorgt und ihren eigenen Unsinn macht, entsteht Krebs. Das führen uns die Beteiligten in „Läuschen und Flöhchen“ sinnbildlich vor.

B) Zumindest in Europa und der westlichen Welt wird heute Wert gelegt auf individuelle Freiheit und Unabhängigkeit. Diese erreiche ich aber nur durch innere Sammlung und Konzentration, mit der ich mich Einflüssen von außen gegenüber behaupten kann. Dazu muß ich aktiv werden. Wenn ich jedoch passiv bin und mich durch äußere Reize ablenken, führen und zerstreuen lasse, werde ich schwächer und abhängig. Die kleine Geschichte von "Läuschen und Flöhchen" ist deshalb top aktuell, weil sie uns aufmerksam machen kann auf die Wirkung, die heute beispielsweise Werbung und Medien ausüben.

 

(Frank Jentzsch 8.2..2008 / 12.3.2008 / 19.8.08 / 3.6.2015 / 29.11.2018)

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