Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Vom klugen Schneiderlein (Brüder Grimm, Kinder- u. Hausmärchen Nr. 114, --> Originaltext von 1857)

Deutung:

Die echten Märchen schildern menschliche Entwicklungsmöglichkeiten in Sinnbildern. Die Personen und Tiere des Märchens spielen in der menschlichen Seele. Unser Märchen stellt schon zu Beginn das Ziel aller Entwicklung, die Vereinigung mit der Königstochter in Aussicht. Bis dahin muß die menschliche Persönlichkeit aber noch einen Weg der Läuterung durchschreiten. Die Königstochter prüft hier selbst die Fortschritte auf diesem Weg.

Schneider stehen für das moderne Denken. Sie zerschneiden (analysieren) Gewebtes und fügen es nach eigenem Gutdünken neu zusammen. Gewebe: ein Bild für das Ineinanderfügen von Schicksal und eignem Handeln. Dabei darf der Lebensfaden nicht reißen! In Guatemala würde noch heute keine Indiofrau ein Gewebe zerschneiden. Oder denken wir an die Lebenszusammenhänge auf unserem schönen blauen Planeten, aus dem kurzsichtige Wirtschaftsegoismen sich rücksichtslos Stücke herausschneiden wollen!

Der älteste Schneider ist ganz materialistisch gestimmt. Für ihn kommt nur schwarz weißes Alltagstuch in Frage. Etwas näher am Himmel ist der zweite schon, wenn er rät: „braun und rot, wie meines Herrn Vaters Bratenrock“. Bestenfalls am Sonntag gab es früher Braten. Und den Sonntagsrock zog man am Sonntag an, wenn man in die Kirche ging.
Der Jüngste, das ist die Kraft in uns, die noch recht wenig in uns entwickelt ist. Es ist der Wille, dasjenige gern zu tun, was der Menschheit und der Weltentwicklung nützt. Diese Kraft erschließt höhere Wahrnehmungen. Der Jüngste schaut das Gold und Silber der Aura der Königstochter. Er ist dem Himmel am nächsten.

Nur das Sehen, das Wissen, genügt aber nicht. Es muß das Gefühlsleben verwandeln, muß sich zur Begeisterung verdichten, und endlich zur Tat. Das soll der Jüngste beim Bären erproben, bei den niederen Triebkräften in uns.
Zunächst zeigt er dem Bären beim Nüsseknacken die Überlegenheit des Denkens über die rohen Körperkräfte (Der Bär biß aus allen „Leibeskräften“ hinein aber ....!). Merkwürdigerweise wird nicht von Nüssen gesprochen, denn das wären die damals heimischen Haselnüsse gewesen, sondern von welschen Nüssen. Welsch kennen wir von „Kauderwelsch“, einer fremden unverständlichen Sprache. Die welschen Nüsse, die Walnüsse, kamen nämlich aus dem fernen Kaukasus. Ihre Kerne ähneln dem menschlichen Gehirn und sind auch Gehirnnahrung.
Mit diesem Sinnbild wird also darauf hingewiesen, daß das jüngste Schneiderlein nicht nur die gewöhnlichen Fragen löst, sondern auch die ungewohnten, neuen „Nüsse knacken“ kann. Es kann besonders gut denken.
Danach gelingt es dem Schneiderlein, die Triebkräfte des Bären mit „Musik“ zu harmonisieren. Dann aber schafft er sich Ruhe vor dem Bären, indem er ihn im Schraubstock einzwängt und die Nacht verschläft.

Der Schraubstock scheint mir ein Bild zu sein für eine asketisch gewaltsame Anstrengung, seine Seele zu läutern. Schon den Aschenputtel-Stiefschwestern ist das mit Zehe- und Ferse-Abschneiden nicht gelungen.
Die Gegenkräfte – die neidischen Brüder – treten wieder auf den Plan und schrauben den Bären los, wenn der Jüngste schon überheblich meint, er hätte alles im Griff. Die niederen Triebe waren nur verdrängt, wie der Psychologe sagen würde.

In der irdischen Wirklichkeit würden jetzt viele Jahre des Übens folgen, vielleicht sogar einige Erdenleben, bis das errungen ist, was das Schneiderlein nun vorführt. Im Märchen klingt es so, als lägen nur ein paar Augenblicke dazwischen: Das Schneiderlein stellt sich auf den Kopf und streckt die Füße zum Fenster hinaus. Es zeigt dem Bären, daß es nicht im Irdischen seinen Halt hat, sondern im Himmel fußt – dort hat es sein Fundament. Es steckt aber noch ein anderes Sinnbild darin: mit den Füßen machen wir uns nämlich auf den Weg, machen Fortschritte in unserer Entwicklung. Dazu muß man die eigene Bequemlichkeit und die eigenen Begierden im Zaum halten. (Wenn man diesen beiden nachgibt, werden immer erarbeitete Kräfte verbraucht.) Hier zeigt das Schneiderlein, daß er sich bis in den Willen hinein geläutert hat. Damit hat der Bär seinen Meister gefunden.

 

Siehe auch ( Lit.) Friedel Lenz: "Bildsprache der Märchen", Verlag Urachhaus Stuttgart! (Stand 6.1.2010, 19.6.2011, 20.5.2014)

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