Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Der Gevatter Tod (Brüder Grimm 1812)

 Liebe Freunde und Förderer des Lebens, die meisten Märchen handeln direkt oder indirekt vom Leben. Da macht sich der Held auf, um für den kranken Vater das Wasser des Lebens zu holen, da bekommt ein armes, frommes Mädchen ein Töpfchen geschenkt, aus dem unaufhörlich Leben quillt, da werden Verstorbene wieder zum Leben erweckt, und viele andere wunderbare Dinge. Selten wird über Tod und Leben direkt gesprochen. Eine Ausnahme macht das Märchen vom „Gevatter Tod“ (Brüder Grimm, 1812). Es schildert, wie sich beide im Menschen selber offenbaren. Da sich am Gegensatz die Eigenart einer Sache am deutlichsten zeigt, drucken wir es hier ab:

Es war einmal ein armer Mann, der hatte schon zwölf Kinder, wie das dreizehnte geboren wurde, wußte er sich nicht mehr zu helfen, und lief in seiner Noth hinaus in den Wald. Da begegnete ihm der liebe Gott und sagte: „du dauerst mich, armer Mann, ich will dir dein Kind aus der Taufe heben und für es sorgen, da wird es glücklich auf Erden.“ Der Mann antwortete: „ich will dich nicht zum Gevatter, du giebst den Reichen und läßt die Armen hungern;“ damit ließ er ihn stehen und ging weiter. Bald darauf begegnet ihm der Tod, der sprach gleichfalls zu ihm: „ich will dein Gevattersmann werden, und dein Kind heben; wenn es mich zum Freund hat, da kanns ihm nicht fehlen, ich will es zu einem Doctor machen.“ Der Mann sagte: „das bin ich zufrieden, du machst keinen Unterschied und holst den Reichen wie den Armen; morgen ist Sonntag, da wird das Kind getauft, stell dich nur zu rechter Zeit ein.“Am andern Morgen kam der Tod und hielt das Kind über die Taufe. Nachdem es groß geworden war, kam er einmal wieder, und nahm seinen Pathen mit in den Wald; da sprach er zu ihm: „jetzt sollst du ein Doctor werden; du brauchst nur Acht zu geben, wenn du zu einem Kranken gerufen wirst und du siehst mich zu seinem Haupte stehen, so hats nichts zu sagen, laß ihn dann an dieser Flasche riechen, und salb ihm die Füße damit, so wird er bald wieder gesund seyn; steh ich aber zu den Füßen, dann ists aus, dann will ich ihn haben, und untersteh dich nicht eine Cur anzufangen.“ Damit gab der Tod ihm die Flasche, und er ward ein berühmter Doctor; er brauchte nur den Kranken zu sehen, so sagt’ er schon voraus ob er wieder gesund werde oder sterben müsse. Einmal ward er zum König gerufen, der an einer schweren Krankheit darnieder lag; wie der Doctor eintrat, sah er den Tod zu den Füßen des Königs stehen, und da konnte seine Flasche nichts mehr helfen. Doch fiel ihm ein, er wollte den Tod betrügen, packte also den König an, und legte ihn verkehrt, so daß der Tod an seinem Haupte zu stehen kam; es glückte und der König wurde gesund. Wie der Doctor aber wieder zu Haus war, kam der Tod zu ihm, machte ihm böse grimmige Gesichter und sagte: „wenn du dich noch einmal unterstehst mich zu betrügen, so dreh ich dir den Hals um.“ Bald darnach ward des Königs schöne Tochter krank, niemand auf der Welt konnte ihr helfen, der König weinte Tag und Nacht, endlich ließ er bekannt machen, wer sie curiren könne, der solle sie zur Belohnung haben. Da kam der Doctor und sah den Tod zu den Füßen der Prinzessin stehen, doch weil er vor ihrer Schönheit ganz in Erstaunen war, vergaß er alle Warnung, drehte sie herum und ließ sie an der heilenden Flasche riechen und salbte ihr die Fußsohlen daraus. Kaum war er wieder zu Haus, da stand der Tod mit einem entsetzlichen Gesicht vor ihm packte ihn, und trug ihn in eine unterirdische Höhle, worin viel tausend Lichter brannten. „Siehst du, sagte der Tod, das sind alle Lebende, und hier das Licht, das nur noch ein wenig brennt und gleich auslöschen will, das ist dein Leben; hüt’ dich!“

Dieses Märchenmotiv finden wir in mehreren europäischen Sprachen wieder. Und oft werden in den Varianten Kopf und Füße verwechselt. Wie das? Nun, zur Verdeutlichung will ich ein paar Beispiele bringen, in denen entweder der Kopf oder die Füße eine wichtige Rolle spielen. Rotkäppchen macht sich mit Kuchen und Wein auf den Weg, um die Großmutter zu stärken. Im Märchen Der süße Brei heißt es:„Da ging das Kind hinaus in den Wald ...“. In einem anderen Märchen machen sich Tiere auf den Weg und wollen Bremer Stadtmusikanten werden“. Das Eselein war so betrübt, daß es in die weite Welt ging und nur einen treuen Gesellen mitnahm. Der Bärenhäuter muß sieben Jahre durch die Welt wandern, bis er erlöst wird. Das Glückskind im Teufel mit den drei goldenen Haaren wandert bis in die Hölle und zurück, ohne sich zu fürchten. Der Königssohn im „Eisenhans“ geht auf gebahnten und ungebahnten Wegen immer fort ... Der junge Graf in „Die Gänsehirtin am Brunnen“ trägt seine Lasten bis zur Erschöpfung einen Berg hinauf. Immer spielen hier die Füße die Hauptrolle. Dabei werden Fortschritte gemacht. In manchen russischen Märchen darf der Held sogar einem Knäuel folgen, das sich vor ihm entwickelt: Sinnbild für seine eigene seelische Entwicklung.

Wo ist vom Kopf die Rede? Bei den Bremer Stadtmusikanten fliegt der Hahn in die Spitze des Baumes, wo es am sichersten für ihn ist. Da kann er von oben herunter-schauen und muß nicht selber handeln. Das machen wir, wenn wir über etwas nach-denken oder etwas beurteilen. Im irischen Märchen Der Pechvogel läuft und läuft der „Held“ zwar, macht aber dennoch keine Fortschritte, weil er sich an ein ausgedachtes Ziel klammert, und nichts lernt unterwegs. Er läuft mit Scheuklappen und hat kein Mitgefühl für die Wesen, die ihm unterwegs begegnen und seine Helfer werden könnten. In Frau Holle denkt die Pechmarie an die kommende Belohnung, will aber nicht dafür arbeiten. Im Sneewittchen bespiegelt sich die böse Königin und muß endlich in glühenden Pantoffeln tanzen, um wieder in die Füße zu kommen, könnte man sagen, oder; damit die Denkerei und das Sich-selbst-Bespiegeln aufhört.

Schauen wir uns die menschliche Physiologie an: Im Stoffwechsel wird verarbeitet, verändert, werden Fortschritte gemacht. Da ist das meiste Leben und das geringste Bewußtsein, wenn der Mensch gesund ist. Erst der Kranke spürt seinen Magen. Im Kopf ist dagegen der geringste Stoffwechsel, das wenigste Leben, aber das meiste Bewußtsein. Zeitlupenaufnahmen von Hürdenläufern zeigen ein Sinnbild dafür: der Kopf bleibt fast auf einer Linie in Ruhe, während sich die Beine heftig bewegen.

Unsere Sprache verrät auch die Zusammenhänge: ich soll mit beiden Beinen im Leben stehen, standhaft bleiben, Fortschritte machen, nach einem Mißerfolg wieder auf die Füße kommen. Wenn sich ein Mensch ängstlich zurückzieht, dann hat er „kalte Füße bekommen“. Tatsächlich werden beim Sterbenden zuerst die Füße kalt. Dagegen ist es wichtig, bei schweren Entscheidungen „einen kühlen Kopf zu bewahren“. Das Wahrnehmen, das Denken, darf nicht von zu viel Eigenleben getrübt werden, damit es Fremdes objektiv durchlassen kann. Auch das Auge funktioniert dann am besten, wenn in seinem Glaskörper möglichst wenig Leben ist. Jetzt verstehen wir, warum es in Ordnung ist, wenn im Märchen der Gevatter Tod am Kopf des Patienten steht, denn da ist auch beim Gesunden das wenigste Leben. Die Füße müssen aber beim Gesunden warm sein, sonst wird es bedenklich.

Ich wünsche nun uns allen, daß wir in der heutigen Zeit keine kalten Füße bekommen, sondern ganz lebenslustig Fortschritte machen, selbst wenn wir ab und zu einen kühlen Kopf bewahren müssen.

 

Frank Jentzsch, Stuttgart, den 17.1.2014, Tel. 0711 – 935 60 42 - www.maerchenfrank.de