Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Die Frau

 

 

 

 

im Märchen

1) Märchenfrauen mit Macht In vielen Märchen spielen Frauen von Anfang an eine führende Rolle. Bei Frau Holle zwingt die Mutter die spätere Goldmarie, so viel zu spinnen, "daß ihr das Blut aus den Fingern sprang". Bei Hänsel und Gretel läßt die Mutter die Kinder im Wald aussetzen. Eine böse Stiefmutter läßt Aschenputtel von früh bis spät hart arbeiten, und wenn es müde war, "kam es in kein Bett...." In den russischen Märchen muß der Held die Prüfungen der Baba Jaga bestehen:"Sonst fresse ich dich!" ("Die schöne Wassilissa")

2) Die Heldinnen im Märchen
Oft beklagen Frauen, daß es in den Märchen nur männliche Helden gebe. Aber die Goldmarie in Frau Holle ist doch eine Heldin! Besiegt nicht Gretel in "Hänsel und Gretel" mit einer List die gefährliche Hexe? Erträgt nicht Aschenputtel geduldig den Spott der Stiefschwestern und führt alle ihr übertragenen Arbeiten ohne Murren aus, bis sie den Prinzen bekommt? Sie wird dabei nicht gedemütigt sondern übt die Tugend des Ertragens.

3) Historische Aspekte
Die Bilder der Märchen kommen aus früheren Jahrhunderten, in denen die Frau eine andere gesellschaftliche Stellung hatte als heute. Wenn wir die Märchen auf der selben Ebene wie Romane oder Schauspiele verstehen wollen, so gibt es Probleme. Die Rolle der Frau darin ist dann demütigend. Die Märchen erscheinen uns grausam, unrealistisch, nicht mehr zeitgemäß. Aber vielleicht sind sie ja "zeitlos" und menschlich gemeint anstatt geschlechterspezifisch? Ein Märchenbeispiel:

4) Wassilis Weibchen (F.J. nach Afanasjew)
Wassili hatte ein Weibchen, na, ihr wißt schon, was für eine: Immer gab sie Widerworte. Wollte er Grünfutter schneiden, schon rief sie: "Nein, erst wird Holz gehackt!" Wollte er Gerste säen: "Nein, Hafer!"
Einmal im Frühling waren die beiden zusammen unterwegs...... , kamen an ein Flüßchen. Das Schmelzwasser hatte die Brücke davongerissen, nur ein langer Balken lag darüber. "Hier kriege ich sie!", dachte Wassili. "Ich gehe zuerst!" sprach er. "Nein, ich!" rief Maremja, und schon war sie auf dem Balken. Als sie in
der Mitte war, sagte er: "Nicht wackeln, sonst fällst du noch hinein!" "Nun wackle ich gerade!" schrie sie und stampfte mit dem Fuß auf. Der Balken kippte, plumps, lag sie im Wasser, ging unter und kam nicht wieder an die Oberfläche. Wassili seufzte. Er hatte schon so viel mit ihr erlebt. Aber was sollte er ohne sie anfangen? Er brach sich einen Stecken aus dem Ufergebüsch, watete ins Wasser und begann zu suchen.
Ein ganzes Weilchen hat er gesucht. Da kamen zwei Bauern am Ufer entlang, und riefen: "He, Alterchen, fischst du?" "Freilich fische ich", sagte Wassili, "nach meinem Weibchen fische ich, das unten bei der alten Brücke ins Wasser gefallen ist!". "Du Dummkopf !" riefen die beiden, "da mußt du unterhalb der Brücke suchen; sie wird schon weit abgetrieben sein!" "Ich sehe schon" entgegnete Wassili, "ihr kennt sie nicht, sie wird auch diesmal gegen den Strom geschwommen sein!"
Und richtig - er hat sie gefunden!....sie herzten und küßten sich und setzten gemeinsam ihren Weg fort.


Zur Deutung:

"Meine Freundin hat den Kopf verloren, weil sie ihr Herz verschenkt hat." Das nimmt niemand als materielles Geschehen sondern als ein seelisches. Vielleicht hilft uns das auch bei der Deutung des kleinen russischen Märchens von Wassilis Weibchen weiter?
Beginnen wir nicht alle spätestens mit 3 Jahren damit, gegen den Strom zu schwimmen? "Hast Du wieder genascht?" fragt die Mutter, und das Kind strahlt: "Nein!" Es macht sich auf diese Weise mit einer Lüge unabhängig von der Mutter. Mit 14 Jahren muß man wieder gegen den Strom schwimmen, um eine individuelle Persönlichkeit zu entwickeln. Es geht nicht ohne Kämpfe ab, bevor man ein vernünftiger, ehrlicher, verantwortlicher Mensch wird.

Vielleicht habe ich selbst ja auch diesen Wassili und diese Maremja in mir? Wir kennen doch ähnliche Situationen: "Nehmen Sie noch ein Stück Kuchen!" "Nein danke, zu viele Kalorien!" sagt der Verstand. Die Seele stürzt sich trotzdem ins Vergnügen, und der Verstand sieht zu. "Trinken Sie noch ein Glas Wein!" "Oh nein, ich muß noch Auto fahren!" sagt der Verstand. Das Gefühl genießt, und der Verstand hat Bedenken. Maremja stürzt (sich) in die Fluten (der Gefühlswelt). Wassili geht der Sache auf den Grund. Und daß der Verstand das Gefühl zum Widerspruch reizt, ist auch bekannt. Es erwidert prompt: "Nun gönne ich es mir gerade!"

Maremja verbindet sich durch das Erleben mit der Welt - und Wassili macht durch seinen Überblick Erfahrungen daraus. Mit Gefühl ohne Verstand kann ich zwar etwas erleben, aber ich kann nichts daraus lernen. Verstand ohne Gefühl hingegen hat nichts zum Beurteilen. Die beiden gehören zusammen. Hat nicht jede Frau einen Wassili in sich – und jeder Mann eine Maremja?

Märchen schildern ja seelische Entwicklungswege in Bildern, und das, was in unserer Seele so schwer durchschaubar durcheinandergeht, stellt das Märchen in klar von einander unterschiedenen Rollen "auf die Bühne". Wir ahnen etwas von unserer Herkunft, der Großmutter, wir spüren in uns noch die Wärme der Mutter, wir spüren das Kind in uns, die Verantwortung, uns auf den Weg zu machen, Fortschritte zu machen, und auch den Wolf haben wir in uns, unsere Ängste. Ob wir weiblichen oder männlichen Geschlechts sind, wir kennen die spöttischen Einwände, die die Stiefschwestern in uns machen, wenn wir uns vorgenommen haben geduldig zu arbeiten. (--> Aschenputtel), oder die Verachtung der "hochmütigen Brüder", die uns an unserer Tüchtigkeit und Klugheit zweifeln machen wollen. Wir können aufatmen: Märchen verherrlichen weder die Herren der Schöpfung, noch diskriminieren sie die Frauen, sie schildern menschliche Entwicklungen in Sinnbildern.

(Frank Jentzsch, 14.2.2008, 13.9.2008, 5.1.2010)

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