Märchenerzähler
Frank Jentzsch

   
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Allgemeines zur Bildsprache der Märchen

Für Kinder? Deutungen sind nur für Erwachsene gedacht. Kinder sollen die Märchenbilder ohne Diskussion über Sinn und Bedeutung aufnehmen dürfen. Dadurch werden sie in ihnen zur späteren Lebenssicherheit, so ähnlich als hätten sie eine liebevolle Mutter in der Kindheit gehabt. Kinder brauchen ja auch zunächst eine gute Ernährung und nicht Erklärungen zum Kaloriengehalt, zu Spurenelementen und Cholesterin. Sie sollen erst einmal laufen, springen, klettern, balancieren, ehe man ihnen etwas über Muskelkontraktionen und Hebelwirkung in den Gelenken sagt. Ein Gedicht auswendig zu lernen ist für Kinder auch fruchtbarer als darüber zu reden, denn das Lernen verleibt es mir ein, und ich werde reifer - damit ich danach darüber nachdenken kann. Also, Geduld! Lassen Sie Kinder noch träumerisch durch die Bilderlandschaften wandern! Ab 16 J. sind sie zwar fähig darüber zu reden, haben dann aber andere Interessen.

Für Erzieher ist es jedoch ganz wichtig, die Bedeutung derjenigen Märchen zu ahnen, die sie Kindern (und überhaupt anderen Menschen) vorlesen oder erzählen. Nur wenn sie selbst ganz einverstanden sind mit dem Inhalt, werden sie die Zuhörer nicht verunsichern mit ihren Zweifeln. Kinder suchen beim Erwachsenen Halt und Führung. Wenn er schwankt, verlieren sie den Halt und werden "ungehalten".

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Für uns Erwachsene sind Märchen heute eine schwierige Sache, weil wir sie zunächst mit Geschichten, Romanen, Schauspielen auf eine Stufe stellen und sie nicht als Sinnbilder nehmen. Die Personen im Märchen sind jedoch keine Individuen mit individuellem Schicksal, sondern Bilder für seelische Eigenschaften.

Im täglichen Leben sind wir selbstverständlich vertraut mit solchen Bildern für seelische Eigenschaften - und zwar mit den Gesichtern unserer Mitmenschen. Aus ihnen lesen wir momentane Stimmungen, seelische Gewohnheiten und endlich den Charakter des jeweiligen Menschen ab, obwohl wir mit den Augen vielleicht nur Hell-Dunkel-Unterschiede sehen. Wir lesen im Gesicht des Gegenüber, ob er fröhlich oder traurig, zornig oder freundlich ist, ohne daß er es uns erklärt. Genau so verstehen wir es als Sinnbild, wenn jemand "etwas auf die leichte Schulter nimmt", wenn er "mir sein Ohr leiht", wenn er "sein Herz verschenkt" oder "den Kopf verliert". Vergleichen Sie einmal die folgenden beiden Aussagen:

1) Peter hat bei dem Unfall ein Bein verloren, und
Jutta hat eine Niere gespendet. (Materiell gemeint)

2) Klaus hat den Kopf verloren, weil er sein Herz
verschenkt hat. (im übertragenen Sinne gemeint)

Märchen sprechen in der zweiten Art zu uns. Märchen schildern menschheitliche und individuelle Seelenentwicklung in symbolischen Bildern. Sie sind Sinnbilder menschlicher Entwicklungswege. Und damit wir nicht nur gedanklich darüber stehen und urteilen, sondern mit-erleben und dadurch lernen, kleidet das Märchen seine Inhalte in alltägliche Figuren, mit denen wir uns identifizieren können. Die inneren Bilder können in uns zu freilassenden Vorbildern werden, auch noch nach Jahren.

Die sinnbildliche Sprache der Märchen war den Menschen vor 200 bis 300 Jahren sicherlich leichter zugänglich als uns heute. Sie gingen Sonntags in die Kirche, wo der Pfarrer, der Priester ihnen die Sinnbilder der Bibel auslegte, sie mit den Seeleneigenschaften der Zuhörer in Beziehung brachte. Bei der Jordantaufe kam der heilige Geist in Gestalt einer Taube auf Jesus herab. Jeder ahnte, was gemeint war, wenn von der himmlischen Hochzeit gesprochen wurde, zu der man ein schönes Gewand haben muß. Dem Reichen, der für seine Vorräte größere Scheunen bauen will, sagt Christus: "Du Narr, heute nacht wird man deine Seele von dir fordern." Der Reiche wurde als der seelisch Hochmütige begriffen, und der Arme als der Demütige, der vor der Fülle der geistigen Mächte natürlich bescheiden ist.

Und so sprechen die Märchen auch in Sinnbildern, wenn Rotkäppchen vom Wolf verschlungen wird und hernach wieder lebendig aus seinem Bauch herauskommt. Und die Aschenputtel-Stiefschwestern sind nicht schwierige Menschen, wie wir sie im Alltag kennenlernen, sondern Bilder für seelische Extreme, in die ein Mensch geraten kann. Bei der einen ist die Zehe zu groß, bei der anderen die Ferse. Die eine kommt nicht nicht auf den Boden der Tatsachen herunter, sondern tippelt wie ein kleines Kind auf den Zehen, ist eine Phantastin, Schwärmerin. Die andere stampft mit der Ferse auf, wenn sie etwas durchsetzen will, sie kennt nur Messen, Zählen, Wägen, aber keinen Himmel. Aschenputtel ist das Bild für den Ausgleich, die Mitte, die wir in uns entwickeln können, sie kennt Erde und Himmel, leistet geduldig schwere Arbeit und geht dreimal am Tag zum Grab der Mutter beten: ora et labora. Ihr paßt der goldene Schuh, den sie durch durch bescheidenes Einfügen in irdische Pflichten und durch freiwillig hinzugefügtes geistiges Arbeiten / Meditieren / Beten erlangt hat. Die Aura hat sich verändert, die Himmelsweisheit ist nicht nur im Kopf geblieben oder im Gefühl, sondern ist bis in die Füße gekommen, sie hat sie in ihren Willen, in ihr Handeln aufgenommen. Das Märchen zeigt, was geschieht, wenn wir unerwünschte Einseitigkeiten verdrängen wollen: die "Psychoanalytiker" (Tauben) auf dem Haselbäumchen durchschauen es. Auch das Auspicken der Augen am Ende ist keine mittelalterliche Folter sondern ein Bild dafür, daß die Extreme natürlich blind sind für die Mitte, sonst wären sie keine Extreme.

Richtige Märchen stellen seelische Entwicklungswege in Bildern vor uns hin. Und diese Wege brauchen sicherlich länger als ein Leben. Man kann sie nicht in vollem Umfang begreifen, wenn der Tod am Ende eines Erdenlebens ein "Zuletzt" sein soll. Der Tod ist ein Durchgang. Die vielen Nahtoderlebnisse, die heute veröffentlicht sind, weisen darauf hin. Warum haben wir heute Hemmungen, unbefangen diesen Berichten und Erlebnissen zu vertrauen? Weil wir frei sein wollen. Es verspricht größere Freiheit, wenn wir für unsere Handlungen, Gefühle und Gedanken nur in so weit zur Verantwortung gezogen werden, als andere Menschen sie uns nachweisen können. Es ist beruhigend zu hören, daß mit dem Tod alles aus sei, und wir uns das Ausgleichen sparen können. Aber warum sollte der liebe Gott so kleinlich sein, uns nur ein Leben als Mann oder Frau, entweder reich oder arm, zum Lernen zur Verfügung zu stellen?

Zu den Zwergen, Nixen, Riesen und anderen Wesen, die in den Märchen vorkommen: Wir alle wissen: ein Haus wächst nicht von alleine. Es sind Arbeiter dazu nötig. Ein Baum wächst nur deshalb "von alleine", weil wir die Arbeiter nicht sehen. Die Menschen haben jedoch in früheren Zeiten träumerisch die Wesen wahrgenommen, die da gewirkt haben. Davon sprechen Märchen in Bildern. Vor fünfhundert Jahren konnten wir noch im Einklang mit der Natur in Feld und Wald arbeiten, ohne durch Motorengeräusche aus dem träumerischen Miterleben gerissen zu werden. Wir mußten diese Wahrnehmungsfähigkeit verlieren, mußten das träumerische Erleben verlassen, um das intellektuelle Denken entwickeln zu können. Da jeder einzelne Mensch in seiner Biografie die Evolutions- und Entwicklungsstadien der Menschheit wiederholt, kann man es in der individuellen Entwicklung noch einmal ablesen. Kleine Kinder reden oft mit Wesen, die wir Erwachsene nicht sehen. Für sie ist alles noch belebt. Nach und nach verliert sich diese Fähigkeit dann zugunsten des Denkens.

Die Wege im Märchen: Märchen schildern nun das Stehenbleiben und Verhärten in den Stiefschwestern oder den hochmütigen Brüdern, zeigen aber auch den Weg der Jüngsten, derjenigen Kräfte in uns, die es zu entwickeln gilt, hin zu den Quellen unseres Ursprungs. Das ist keineswegs ein Zurück; denn die bleibende Stärke am Ende kommt nur durch die überwundenen Schwächen zu Stande.

links oder rechts?

Bemerkenswert ist, daß die Märchenhelden oder -heldinnen meist keine Wegbeschreibung haben oder Hinweisschilder vorfinden, sondern einfach zuversichtlich vorwärtsgehen. Wenn sie genügend Fortschritte gemacht und alle Proben bestanden haben, stellt sich ihnen offenbar das Ziel vor die Nase. Anscheinend ist es nicht wichtig, auf welchem Wege man das Ziel erreicht - Hauptsache man strengt sich an! (Vergl. "Die Gänsehirtin am Brunnen",Brüder Grimm KHM 179 : " ... er langte endlich bei dem Haus der Alten an, als er eben niedersinken wollte." Er steigt und steigt, und die Probe besteht in diesem Falle darin, daß er sein Widerstreben gegen das Schicksal aufgeben soll.)

Eigene Erfahrung: Die Märchen muten uns allerdings etwas zu. Wir dürfen uns mit der einen oder der anderen Gestalt in ihnen identifizieren, je nachdem, welche uns sympatisch ist. Das ist ihr Kunstgriff. Dadurch durchleben wir aber auch ihren Weg bis zum Ende. Und durch das Erleben lernen wir mehr, als wenn uns jemand eine Moralpredigt mit erhobenem Zeigefinger gehalten hätte: "Du mußt dich so und so verhalten, dann geht es gut aus." Das wäre nur ein Gedanke geblieben, so aber wird es eigene Erfahrung.

(Frank Jentzsch 12.2.2008 / 21.2.2008 / 19.8.2008 / 23.9.2008 / 8.1.2009 / 19.11.2010)


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